#MerzMail 64

Liebe Unterstützerinnen,
liebe Unterstützer,

die Union hat am letzten Sonntag eine historische Wahlniederlage hinnehmen müssen. CDU und CSU allein sind für dieses Wahlergebnis verantwortlich, niemand anderer. Wahlen werden nicht von der Opposition gewonnen, sondern von der Regierung verloren. „Regierung“ war in den Augen der Wähler zum Schluss nur noch die Union, nicht mehr die SPD. Die SPD hat sich seit der Übernahme des Finanzministeriums durch Olaf Scholz im Frühjahr 2018 systematisch auf diesen Augenblick vorbereitet. Sie hat Amtsbonus und Oppositionsrolle gleichzeitig in Anspruch genommen – gegen eine Union, die auf keine der großen politischen Fragen der Gegenwart geschweige denn der Zukunft mehr eine überzeugende Antwort wusste. 24,1 Prozent und Platz 2 waren vor diesem Hintergrund sogar noch ein relativ gutes Ergebnis, im Wesentlichen erreicht durch die Angst vor Rot-Grün-Rot. Angst vor dem politischen Gegner ist auf Dauer aber keine Basis für eine erfolgreiche Parteiarbeit. Und da Rot-Grün-Rot jetzt keine Bedrohung mehr ist, können die Zustimmungswerte für die Union auch noch weiter fallen.

Die Union steht daher vor einer vollständigen Neuausrichtung. Sollte Jamaika noch zustande kommen, müssten beide Aufgaben gleichzeitig geleistet werden, Regierungsarbeit und Neuausrichtung. Mit einem starken Parteiapparat geht das, aber auch der müsste erst wieder aufgebaut werden. Ohne den Zusammenhalt in einer Regierung und ohne die disziplinierende Wirkung der Macht wird es noch schwieriger, aber umso notwendiger. Es geht dann um die schiere Existenz der CDU und der CSU als christdemokratische Volksparteien. Die meisten früheren Partner in der europäischen Volkspartei haben dieses Ziel nicht erreicht.

Wenn die Union politisch überleben will, stellen sich nicht nur Personalfragen. Die sind sogar nachrangig, denn zunächst kommt es auf eine Standort- und Kursbestimmung zu den wesentlichen politischen Sachfragen der nächsten Jahre an. Und die haben es in sich:

  • „Soziale Gerechtigkeit“ sieht die Mehrheit unserer Bevölkerung als wichtigstes Thema an. Die Grundlagen für unsere sozialen Sicherungssysteme aber erodieren seit Jahren, trotz oder gerade wegen der immer höheren Ausgaben. Haben wir den Mut, so wie vor zwanzig Jahren, zur Zukunft des Sozialstaats der Bundesrepublik Deutschland noch einmal die Grundsatzfrage zu stellen? Bleibt das sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis trotz der demographischen Entwicklung auch in Zukunft die tragende Säule unseres Sozialstaates? Oder diskutieren wir angesichts des ständig steigenden Zuschussbedarfs aller Zweige der Sozialversicherung aus dem Bundeshaushalt noch einmal ganz neu? Die Antworten müssen ja nicht dieselben sein wie vor zwanzig Jahren, aber die Fragen stellen sich heute dringlicher denn je.
  • Mit diesem Thema ist eng verknüpft die Frage nach der Lastenverteilung im Steuer- und Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland. Ist unser heutiges Steuersystem eigentlich noch zeitgemäß angesichts der tiefgreifenden Veränderungen der Arbeitswelt? An welchen Tatbeständen knüpfen wir die Steuerpflicht in Zukunft an? Und wie ernst nehmen wir eigentlich noch das Prinzip der Einnahmen-, Ausgaben- und Aufgabenverantwortung in einer Hand? Die Antwort auf diese Frage ist eng verknüpft mit unseren Ideen vom Staatsaufbau der Bundesrepublik Deutschland, subsidiär von unten nach oben oder immer mehr zentral von oben nach unten?
  • Der Klimawandel ist vermutlich die größte globale Herausforderung der nächsten Jahre. Unsere Antworten darauf haben die Wähler in Deutschland nicht überzeugt. Aber das Thema ist politisch so anspruchsvoll und vor allem technologisch so komplex, dass auch die überschießende nationale Regulierungsbegeisterung der Grünen weit hinter den notwendigen Lösungen zurückbleibt. Aber haben wir als Union denn Ideen, die besser sind als das, was zur Zeit rot-grüner Mainstream ist in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung?
  • Schließlich und sicher nicht abschließend: Wie sehen wir eigentlich Deutschlands Rolle in der Welt? Folgen wir dem verbreiteten Impuls, doch lieber eine größere Schweiz zu sein, oder sehen und teilen wir die internationale Verantwortung unseres Landes in einer Staatengemeinschaft, die immer mehr bedroht wird von autoritären politischen Führungen, die ihren Einfluss auch auf einzelne Mitgliedstaaten der EU ausweiten? Was heißt das für uns und für die Zukunft der EU?

Wohlgemerkt: Dies sind nur vier von vielen weiteren Fragen, die Deutschland beantworten muss, wenn auch nachfolgende Generationen noch in Wohlstand und sozialer Sicherheit, vor allem aber in Freiheit und in Frieden leben können sollen. Über allem steht die Frage, ob entwickelte und wohlhabende Gesellschaften überhaupt noch bereit sind, sich den notwendigen Veränderungsprozessen zu stellen und sie zu gestalten. Ohne starke und notfalls konfliktbereite politische Führung geht das nicht, in der Politik insgesamt nicht, und im parteipolitischen Meinungsprozess auch nicht. Hat die Union aus CDU und CSU noch die Kraft dazu? Oder verliert sich die Union – wieder einmal – in Personaldiskussionen, die mehr von persönlichen Eitelkeiten als von Überzeugungen in der Sache geprägt sind? Und wie stehen eigentlich die immer noch rund 400.000 Mitglieder der CDU zu diesen Themen? Werden die nur als Wahlhelfer genutzt oder mit ihren Meinungen auch ernst genommen, zu Sachfragen zuerst, dann aber auch zu Personalentscheidungen? Auch die Repräsentanz der CDU und der CSU als politische Parteien steht auf dem Prüfstand: Nach innen in der Führungsstruktur, nach außen in der Zusammensetzung der Vorstände und der Parlamente. Die Union verkörpert heute in keiner Wählergruppe mehr die Mehrheit, bei den jungen Menschen nicht, den Frauen nicht und den Älteren seit letztem Sonntag auch nicht mehr. Da ist etwas ins Rutschen geraten, das nur noch sehr schwer aufzuhalten und umzukehren sein wird.

Die nächsten Wochen und Monate entscheiden über das Schicksal von CDU und CSU. Ist ihr Auftrag in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland erfüllt? Oder kann sie sich noch einmal neu erfinden?

Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende!

Ihr Friedrich Merz

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