Liebe Leserin, lieber Leser,
es war nicht nur eine bemerkenswerte Wahl zum Europäischen Parlament. Der letzte Sonntag war auch in Deutschland ein besonderer Wahlabend. „Nö“ – das war das einzige Wort, zu dem sich der Bundeskanzler auf die Frage durchringen konnte, ob er denn etwas zum Ausgang der Wahl sagen wolle.
„Nö“ – das wird als Erklärung nicht reichen, wenn denn die Ampel im Abstand von einigen Tagen der Frage auf den Grund geht, was da am letzten Sonntag in Deutschland passiert ist. 13,9 Prozent für die SPD, einstellig im Osten, auf verlorenem Posten selbst dort, wo sie noch in den Ländern regiert. In keinem einzigen der 400 Landkreise und kreisfreien Städte in Deutschland hat die Ampel noch eine Mehrheit. Bei der Landtagswahl 2005 in Nordrhein-Westfalen bekam die SPD noch 37,1 Prozent – und der damals amtierende Bundeskanzler Gerhard Schröder stellte im Bundestag die Vertrauensfrage. Am Sonntag waren es in Nordrhein-Westfalen für die SPD noch 17,2 Prozent – Herzinfarkt im Ruhrgebiet. Will der Bundeskanzler danach wirklich zur Tagesordnung übergehen?
CDU und CSU haben am Sonntag zusammen genau 30 Prozent der Stimmen bekommen. Das ist das ordentliche Ergebnis unserer Arbeit der letzten zweieinhalb Jahren, wir können als Etappe auf dem Weg zur Bundestagswahl damit zufrieden sein. Aber wir stellen uns die Frage, woran es denn liegt, dass die AfD trotz der unfassbaren Skandale ihrer Spitzenkandidaten gegenüber der letzten Europawahl so viel zulegen konnte. Vor allem aber: Warum bleibt die AfD im Osten so stark, und was bewegt die Menschen, eine Partei wie das BSW zu wählen? Könnte es sein, dass ein größer werdender Teil der Wählerinnen und Wähler einfach völlig frustriert ist über das Versagen unseres Staates im Alltag und sie deshalb so extrem wählen, ganz egal, welche zweifelhaften Personen da an der Spitze stehen? Könnte es sein, dass die täglichen Konflikte und Defizite im Alltag, sei es in den Schulen, den Betrieben, den Krankenhäusern, in den Behörden, bei der Bahn und auf der Straße so überhand genommen haben, dass sich immer mehr Menschen von unserem Staat abwenden?
Es mag sein, dass sich die Parteien der Ampel-Koalition von diesem Tiefschlag am letzten Sonntag nicht mehr erholen. Aber die Bundesregierung hat einen Amtseid geleistet, sie ist die gewählte Regierung für 84 Millionen Menschen unseres Landes und der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt. Vor allem die SPD darf sich jetzt nicht darauf verlegen, sich die nächsten 15 Monate durchzuwurschteln und darauf zu hoffen, dass ein Wahlkampf der persönlichen Herabsetzung des politischen Gegners so wie 2021 noch einmal die Wende bringt.
Die Europawahl vom letzten Sonntag ist ein Warnsignal der Wählerinnen und Wähler an uns alle, die großen Probleme des Landes jetzt zu lösen – und vor allem die mit der großen Zahl der nicht integrierten Zuwanderer einhergehenden Probleme nicht noch weiter zu verschärfen, etwa mit dem Staatsbürgerschaftsrecht. Die SPD geht an diesem Sonntag mit dem Präsidium der Partei in eine Krisensitzung. Wir bieten den Sozialdemokraten ausdrücklich an, bei den notwendigen Entscheidungen mitzuwirken und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. In unserem Land – nicht nur im Osten – steht mehr auf dem Spiel als nur das Schicksal einer Koalition. Unsere Demokratie ist in ernsthafter Gefahr. Jetzt nicht zu handeln und in wesentlichen Teilen der Innenpolitik und der Wirtschaftspolitik nicht einen grundlegenden Politikwechsel zu vollziehen, wäre ganz einfach verantwortungslos.
Mit besten Grüße
Ihr Friedrich Merz