#MerzMail 87: In einer „anderen Welt“ aufgewacht?

Liebe Leserin, lieber Leser,

der Angriffskrieg auf die Ukraine tritt nach gut einer Woche in eine weitere Phase. Offensichtlich hat die russische Armeeführung nicht mit dem Widerstand und der Kampfkraft der Ukrainer gerechnet, offenbar sind die meist jungen Soldaten der russischen Wehrpflichtarmee zu schlecht ausgebildet und die Versorgung der Einsatzverbände unzureichend. Doch seit einigen Tagen sind Raketen- und Artillerieangriffe auf die Innenstädte zu beobachten, der Krieg wird immer brutaler gegen die Zivilbevölkerung geführt. Putin greift zu immer schwereren Waffen, so wie in Syrien und im Tschetschenienkrieg werden völkerrechtswidrige Streubomben eingesetzt und der Einsatz von sogenannten „Vakuumbomben“ vorbereitet – Bomben, die das Ziel haben, möglichst viele Menschen gerade in den Städten tödlich zu verletzen.

Wir seien mit diesem Krieg „in einer anderen Welt“ aufgewacht, so wird es nun vielerorts gesagt und geschrieben. Aber stimmt das wirklich? Oder sind wir „nur“ in einer Welt aufgewacht, die immer schon so war, die wir – gerade wir Deutsche – aber gar nicht mehr wahrhaben wollten? Jedenfalls hat sich dieser Konflikt über Wochen und Monate, wenn nicht über Jahre hinweg angekündigt. Die Kriege im Kaukasus, die Besetzung Georgiens und vor allem die Annexion der Krim und die Besetzung der Ostukraine vor acht Jahren hätten keinen Zweifel mehr daran aufkommen lassen dürfen, dass der russische Präsident es ernst meint, vor allem mit der Aberkennung eines jeden Rechts auf die Eigenstaatlichkeit, ja sogar des Existenzrechts der Ukraine. Nach der Übergabe aller Atomwaffen zu Beginn der neunziger Jahre an Russland und ohne Mitgliedschaft in der NATO steht die Ukraine heute mit ihren Streitkräften einer weit überlegenen russischen Armee und vor allem einer vollkommen skrupellosen russischen Staatsführung gegenüber. Das Risiko erschien Putin offenbar kalkulierbar. Und so werden wir in den nächsten Tagen weitere furchtbare Bilder der Zerstörung und des menschlichen Leids sehen, auch bei unschuldigen jungen russischen Soldaten, die von ihrer verbrecherischen Regierung in diesen Krieg geschickt wurden.

In Europa und in Deutschland beginnt nun die Suche nach besserem Schutz vor solch massiver militärischer Bedrohung. Wir nehmen jedenfalls mehrheitlich wahr, dass diese Bedrohung tatsächlich besteht. Und wir wollen mehrheitlich für die Zukunft dagegen besser gerüstet sein, im wahrsten Sinne des Wortes. Eine Friedensdividende gibt es nicht mehr, stattdessen einen neuen Preis für unsere Freiheit. Aber dieser „Preis“ ist nicht in Geld und Ausrüstung allein zu bemessen. Freiheit kann man im Supermarkt nicht kaufen; man muss Freiheit wollen und auch bereit sein, sie zu erstreiten. In dieser innerlichen Kehrtwende liegt für unser Land die größte gesellschaftspolitische Herausforderung. Der Weg dorthin wird lang, für viele Sozialdemokraten und Grüne wird er besonders lang und beschwerlich zugleich. Wollen wir hoffen, dass vor allem diese beiden Regierungsparteien nicht aufgeben und in die alten Muster zurückfallen, wenn der Lärm der Schlacht nachlässt und die Bilder des Grauens verblassen.

Mit besorgten Grüßen

Ihr Friedrich Merz

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